title | Der Eckige Kreis |
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author | Holger In't Veld/Heiko Zwirner |
publication | Spex |
date | 2002/04 |
issue | 253 |
pages | 72-75 |
Der Eckige Kreis was an interview (in German) by Holger In't Veld/Heiko Zwirner originally published April 2002 in Spex magazine Number 253 pp. 72-75.
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Die Geschichte beginnt in einer Vollmondnacht. Eine Gruppe Pubertierender ist in ihrem Lieblingsclub zusammengekommen, einer Burgruine im Nordosten Schottlands. Sie tragen sechseckige Amulette und haben Tonbandgeräte, Kabel, Verstärker, Musikinstrumente und Projektoren mitgebracht. Und einen dieselgetriebenen Stromgenerator, der als friedfertiger Drache unten im Festungsgraben vor sich hinbrummt. Ein Feuer wirft flackerndes Licht auf die alten Steine. Durch die Schatten erscheinen Aufnahmen von Wäldern. Die Filmrolle stammt aus dem Archiv des National Film Board of Canada. Seltsame Geräusche hallen durch die Nacht. Elektronischer Puls, langsam drehende Spieluhren, Kinderlieder, digitales Sirren und rückwärtslaufende Sprachfetzen aus Radio und Fernsehen.
Der Abendnebel über dem Moor hat sich verzogen. Marcus Eoin lehnt an der Bassbox. Er hält einen Käfer in der Hand, den er vor den Schuhen seiner tanzenden Freunde gerettet hat, betrachtet ihn aufmerksam und setzt ihn vorsichtig zurück ins Gras. Etwas abseits schaufelt Michael Sandison eine Grube. Als sie mannsgroß ist, legt er sich hinein und starrt in den klaren Nachthimmel.
In einem Proberaum weiter unten im Süden schreit eine Gitarre. Kevin Shields probt zum ersten Mal mit seiner Band My Bloody Valentine. Ein paar Meilen poshwärts fährt Jimmy Page seinen Aston Martin in die Hotelgarage. Er ist nicht mehr nüchtern. Drüben auf dem Kontinent testen Florian Schneider-Eissieben und Ralf Hütter das programmierbare Oberheim Stage-Piano. Es macht leise »Pling«. George Orwell dreht sich im Grabe herum. Wir schreiben 1984 und die Welt ist für einige alt, für andere neu.
Michael ist 13 Jahre alt, Marcus 14. Marcus bewegt sich zu den langsamen, mulchigen Rhythmen seiner Musik. Michael richtet sich auf. Zahlen, Buchstaben und geometrische Figuren kreisen in seinem Kopf und ergeben immer neue Bedeutungsketten. Michael Sandison. A Dimension Clash. Hi Sonic Leadsman. Held As lnsomniac. Handline Mosaics. Marcus Eoin. Mosaic Rune. lnsure Coma. Sour Cinema. No Music Era. A Crime On Us.
Das Sechseck. Immer wieder das Sechseck. Einmal mehr hatte man sich bei Warp darum bemüht, dem Buch der Prama-Strategien ein neues Kapitel hinzuzufügen. Im Netz tippten sich die Newsgrouper wund: welche Tracks, wo wie wann und sind wirklich Teufelsköpfe im Artwork? Um keine Missverständnisse aufkommen zu lassen, wurden in England, Schottland, Japan, Frankreich und New York Kirchen für die »Geogaddi«-Listening Session angemietet. Plastik-Hexagons ersetzten die Gebetsbücher. In Deutschland musste der Rote Salon der Volksbühne ausreichen, um einen besonders tristen Berliner Januarnachmittag mit Schleifen, Drones und Bildern zu veredeln. Auf der Leinwand: organische/anorganische Sechsecke und immer wieder die Farbe, mit der sich »Geoqaddi« verpackt: rost-biut-alt-rot.
»Geogaddi« holt aus zur Imax-Musik, Widescreen-Panoramen kündigen sich an:
Gletscher, Lavaströme unter Wasser, die Sonne über dem Mount Everest. Aber kurz bevor sie ins Pittoreske abschweift, erinnert sich diese Musik daran, dass sie gemacht ist und nicht gegeben. Der Projektor im Imax-Theater gerät aus dem Lauf, die Bilder verziehen sich. Die Platte beginnt zu eiern. Sie verweigert sich der Einheit von Ton, Bild und Gefühl. Die Strukturen öffnen sich. Referenzen: Autechre hier, The Orb dort. Und da hinten in der Ecke grinst Boyd Rice. Nicht ganz die reine Mathematik, nicht ganz der fiese Kolorismus. Das Runde rollt ins Eckige. Ein bisschen Magick ist im Spiel. Und ein bisschen Horror. Der in Zeitlupe. Das Kettenkarussel kreist noch, aber es ist leer, die Kinder springen plötzlich gaaanz langsam auf und ab, das Bild wird körniger, der Film reißt. Dreht euch nicht um! Es passiert viel im Hintergrund und nicht alles ist gut.
Enter Neunziger. My Bloody Valentine veröffentlichen »Loveless«, den Schwanengesang des lndierock. Kraftwerk sind in ihrem eigenen Mix. Mike, Marcus und ihre Freunde treffen sich immer noch in der Ruine. Mit jedem Mal werden es mehr. Aus den beiden ist eine Band geworden, der musikalische Teil des Kollektivs Boards Of Canada, wiederum Teil des Kollektivs Hexagon Sun. So heißt auch das Studio in der Nähe. Ihr Studio. Marcus und Mike sind Techno-Hippies. Sie sind auf dem Land geblieben.
Boards of Canada rütteln an den Pforten der Wahrnehmung. Das Raum-Zeit-Kontinuum hat viele Fenster und dahinter geht's noch weit und weiter. Die mit psychedelisch nur ungenügend beschriebenen Chöre und Texturen, rückwärtslaufenden Spuren, die ungreifbare Distanz, in der sich die Musik abspielt, das immer wieder an »Loveless« erinnernde wow & flutter (vulg. »eiern«) - alles Futter für die Schnappmechanismen der Psycho-Heads. »Music Has The Right To Children« steht in der NME-Liste der »Psychedelic Records of All Time« auf Platz 25. »Geogaddi« dürfte höher einsteigen. Während sich bei My Bloody Valentine durch die Abwesenheit von Stille eine Totalität des reinen Klangs manifestiert, operieren Eoin und Sandison immer wieder überfallartig mit semantischen Einheiten, deren Unmittelbarkeit dem friedlich dahingleitenden Headphonauten so mir nichts dir nichts den Teppich unter dem Hintern wegzieht. Word up. Bei »Alpha and Orneqa« sagt eine weibliche Stimme plötzlich »Yellow«, Einfach nur: »Yellow«, Bei »1969« fällt die Zeile »969 in the Sunshine« aus dem Vocoder und stellt sich wie ein neonschimmerndes Hologramm in den Raum. Wer das mit erweiterten Synapsen zum ersten Mal hört, dürfte diesen Moment für den Rest seines Lebens nicht mehr vergessen.
Nicht nur die Vokalspuren, auch viele Teile der Musik erscheinen rückwärts gespielt.Die Suggestivkraft dieser Informationsbündel ist schon erstaunlich. Eines der weniger subtilen Stücke heißt »The Devil ls In The Detail« und es hält, was es verspricht. Ein Kind weint, während sich eine Frau mit heruntergepichter, zusätzlich verflutterter Stimme in Selbsthypnose versetzt. Ein Musik gewordener Alptraum.
Enter 2002. Noch keine Tribal Gatherings dieses Jahr. Nebel liegt über Schottland - mist, myst, haze, fog, dust, smoke, shade, clouds und was auch immer noch an Gasförmigkeiten zwischen Himmel und Hölle herumflottiert. Der Beautiful Place Out In The Country hat gerade seine Blair Witch-Woche. Weiter unten im Süden wird Kevin Shields auf der Straße angesprochen und muss eine »Loveless«-CD signieren. »Geogaddi« steigt in Britannien auf Platz 21 in die Charts ein. Jimmy Page streichelt seinen Pentagramm-Ring. Er ist komplett nüchtern. Florian Schneider-Eissieben und Ralf Hütter testen den neuen Bordeaux-Jahrgang. Es macht leise »gluck«.
BOC veröffentlichten auch unter dem Pseudonym »Hell lnterface«. Um die CD auf die Gesamtlänge von 66 Minuten und 6 Sekunden zu bringen, haben sie noch ein paar Bytes Stille angefügt.
»Geogaddi« von Boards Of Canada ist bei Warp/Zamba erschienen.
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